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Fakultät Raumplanung
Urban River Regeneration

Urban River Regeneration - Befunde aus international vergleichender Forschung zu alten Industrieregionen

In dieser Studie dient eine Kombination aus einer Erhebung und Fallstudien dazu, die zentrale Frage zu beantworten, welche Ansätze zur Flussrestaurierung in altindustriellen Regionen existieren.

Im Ruhrgebiet hat der „Emscherumbau“ der vergangenen dreißig Jahre die Wasserqualität und den ökologischen Zustand des Flusssystems der Emscher enorm verbessert und eine landschaftlich attraktive grün-blaue Infrastruktur im Ruhrgebiet geschaffen. In den kommenden Jahren gilt es, diese Erfolge in Wert zu setzen und als Motor für die Regionalentwicklung zu nutzen. Es bedarf neuer Impulse, um eine substanzielle Verbesserung der Lebensqualität im Emschergebiet zu erreichen, die über die erfolgten ökologischen und landschaftlichen Verbesserungen hinausgeht. Dabei kann das Ruhrgebiet von andernorts gemachten Erfahrungen lernen. Hierfür wird im Rahmen des Projekts zum einen eine Datenbank erstellt, in der altindustrielle Stadtregionen weltweit mit ihren ausgewählten Fließgewässern (Flüsse und Kanäle) erfasst wurden. Zum anderen werden in Form von Infoblättern besonders anregende Beispiele der Stadterneuerung durch Flussumbau in altindustriellen Stadtregionen zusammengestellt. Die Kombination aus Survey und Fall­studien dient zur Beantwortung der zentralen Fragestellung, welche Ansätze des Flussumbaus es in alten Industrieregionen gibt.

Altindustrielle Gebiete stehen heute vielfach vor multiplen Herausforderungen. Zum einen leiden sie unter dem Funktionsverlust einstmals dominanter Industrien und einem Prozess der Deindustrialisierung mit typischen Folgeproblemen wie Arbeitsplatzverlusten, niedri­gem Pro-Kopf-Einkommen, sozialen Problemen und Abwanderung. Zum anderen hat die Natur in diesen Gebieten seit der Industrialisierung ein zuvor unge­kanntes Ausmaß an Umgestaltung und Umweltzerstörung erfahren. Essentielle Voraussetzung für die Industria­li­sierung war die Lage der Produktionsstätten an schiffbaren Flüssen oder der Küste sowie eine günstige Wasser­versorgung. Flüsse wurden nicht nur für den Warentransport, sondern auch zur industriellen Produktion, für die Energiegewinnung, zur Trinkwasser­gewinnung und zur Abwasser­entsorgung genutzt. Im aufkommenden Industriezeitalter wurden zudem viele Kanäle als Wasserstraßen gebaut, die durch Flusswasser gespeist wurden. Bis heute sind viele Böden und Gewässer an alten Industriestandorten mit hochgiftigen Schadstoffen kontaminiert.

Konzeptionell verbindet der Ansatz der „Urban-River Regeneration“ damit Trends und sozioökonomische Herausforderungen der Stadterneuerung mit Altlasten und ökologischen Herausforderungen der Flussrenaturierung in altindustriellen Stadtregionen.

Zur Beschreibung der Untersuchungsbeispiele werden die Dimensionen Kontext (Polity), Prozess (Politics) und Inhalt (Policy) betrachtet. In Strategie­forschung und Politikwissen­schaft ist heute anerkannt, dass politische bzw. strategische Entscheidungs­prozesse nur mit Blick auf alle drei Dimensionen und ihre Wechselwirkungen analysiert und erklärt werden können. So wie Inhalt und Prozess untrennbar miteinander verbunden sind, so sind alle Strategieprozesse in spezifische Kontexte eingebettet und können nur kontext­bezogen interpretiert werden. Variationen in Kontext oder Prozess führen ebenso wie auch Verschiebungen im Zeitablauf zu veränderten Ergebnissen. Ein tiefer­gehendes Verständnis der betrachteten Fälle ist daher nur unter Berücksichtigung aller drei bzw. – zieht man die zeitliche hinzu – vier Dimensionen möglich.

Datenbank

Für die Datenbank wurde im Rahmen der vorliegenden Studie in eine umfassende Desk Research durchgeführt. Diese erfasste weltweit altindustrielle Stadtregionen, in denen Vorhaben des Flussumbaus zur Aufwertung von Stadträumen implementiert wurden. Grundlage bildete in erster Linie eine systematische Internetrecherche. Zu den wesent­lichen Informationsquellen dieser Sekundärforschung gehörten Websites von Behörden, Kommu­nen, Verbänden und Forschungseinrichtungen, aber auch Fachliteratur und Presseartikel.

Bei der Erstellung der Datenbank kamen drei Kriterien zur Anwendung:

  • 1. Kriterium: Altindustrielle Region der ersten beiden Industrialisierungswellen
  • 2. Kriterium: Städtisches Umfeld mit mindestens 50.000 Einwohnern in der Stadtregion
  • 3. Kriterium: Fließgewässer mit mäßigem bis schlechten ökologischen Zustand

Für alle erfassten Fälle wurden folgende Attribute erfasst:

  • Welt-Region
  • Stadt-Region
  • Land (in den USA und Kanada auch Bundesstaaten und Provinzen)
  • Bevölkerung in der Stadtregion
  • (Ausgewählte) Fließgewässer, differenziert nach erheblich veränderten und künstlichen Gewässern

Die Datenbank umfasst bislang insgesamt 511 altindustrielle Stadtregionen weltweit, davon 264 in vierzehn Ländern Europas, 237 in siebenundzwanzig Bundesstaaten der USA und zwei Provinzen Kanadas sowie 10 in Japan. In diesen altindustriellen Stadtregionen leben aktuell ca. 386 Millionen Menschen.

In den 511 Stadtregionen wurden insgesamt 1.641 urbane Fließgewässer (Flüsse, Bachläufe und Kanäle) erfasst. Einige der Wasserläufe durchfließen in ihrem Lauf mehrere altindustrielle Stadt­regionen. Dies gilt insbesondere für größere Flüsse (wie z. B. Delaware, Elbe, Hudson, Mississippi, Ohio, Po, Susquehanna oder Themse), aber auch bedeutende Kanäle (wie z. B. Erie Canal, Grand Union Canal, Leeds and Liverpool Canal oder Ohio and Erie Canal). Zieht man die Mehrfachnennungen ab, liegt die Zahl der insgesamt erfassten Gewässer bei 1.349 urbanen Fließgewässern. Von diesen sind 192 Kanäle als künstliche Gewässer eingestuft.

In Europa konzentrieren sich 86% bzw. 228 der 264 altindustriellen Stadtregionen auf sieben Länder: Großbritannien (82), Italien (48), Deutschland (38), Frankreich (18), Polen (17), Tschechien (14) und Belgien (11). Ähnlich verhält es sich in den USA, wo sich im Mittleren Westen und im Nordosten ebenfalls Cluster in acht Bundesstaaten des ‚Rust Belts‘ abzeichnen: die meisten altindus­triellen Stadtregionen weisen Ohio (30), Pennsylvania (29), Wisconsin (24), Michigan (22), New York (22), Indiana (19), Illinois (17) und West Virginia (14) auf. In Kanada liegt der geographische Schwerpunkt in Ontario (22).

Betrachtet man die Einwohnerzahl, gehören Tokyo, New York City, Kansai (mit Osaka), Paris, London, Chicago, Aichi (mit Nagoya), Washington, Philadelphia und Toronto zu den Top-Ten der größten Stadtregionen mit altindustriellem Erbe. Direkt dahinter folgen auf den Positio­nen elf und zwölf bereits das Ruhrgebiet und Berlin. Relativ wenigen großen Stadtregionen stehen relativ viele mittlere und kleinere Stadtregionen gegenüber. Das arithmetische Mittel der Einwohnerzahl liegt bei ca. 750.000 Einwohnern, der Median bei ca. 200.000 Einwohnern. 95 der 511 Stadtregionen liegen mit 50.000 bis 100.000 Einwohnern nur knapp über dem Mindestwert (2. Kriterium). Immerhin 72 Stadtregionen weisen jedoch über 1 Million Einwohner auf. In ihnen leben mit 272 Millionen Menschen über zwei Drittel der Einwohner der 511 altindustriellen Stadtregionen.

Zu den altindustriellen Stadtregionen mit besonders vielen erheblich veränderten oder künstlichen Gewässern zählen in Europa Städte wie Berlin, Birmingham, London, Mailand, Manchester, Padua und Turin. In Amerika trifft dies auf Städte wie Baltimore, Boston, Chicago, Cleveland, Milwaukee, Montreal, New York City, Philadelphia und Toronto zu.

Good Practice

Best Practice ist eine gängige betriebswirtschaftliche Methode um durch Bench­marking die beste realisierte Lösung für eine Aufgabenstellung empirisch zu ermitteln. Best Practice-Studien sollen damit helfen, Aufgaben optimal zu lösen, indem Erfahrungen aus vergleich­baren Situationen genutzt werden. Inwieweit es für komplexe Aufgaben der Stadt- und Raumentwicklung ein standardisiertes Optimum, einen in Kennzahlen messbaren besten Weg geben kann, ist jedoch fraglich. Good Practice-Studien setzen daher nicht auf die beste Lösung, sondern auf praktisch erfolgreiche Lösungen, die potenziell vorbildlich und nach­ahmenswert sind. Sie stellen eine Hilfe auf dem Weg zu einer Lösung dar, wollen aber keine Blaupause sein. Durch die Auswertung bereits erprobter Vorhaben und damit die Konzentration auf Vergangenes ist der Innovationsgehalt von Good Practice-Unter­suchun­gen naturgemäß begrenzt. In der (teilweisen) Übertragung von Lösungen in einen neuen Kontext liegt allerdings kreatives Potenzial.

Ganz verschiedene Lösungen können zugleich als Good Practice gelten, die Vergleichs­möglichkeiten sind damit von vornherein breiter und offener. Es entbindet jedoch nicht von einer Bewertung der betrachteten Beispiele im Hinblick auf beobachtbare Ergebnisse und einen nachhaltigen (und potenziell andernorts wiederholbaren) Erfolg der Maßnahme.

In dem vorliegenden Projekt werden besonders nachahmenswerte Beispiele aus einem guten Dutzend der in der Datenbank erfassten altindustriellen Stadtregionen ausgewählt. Im oben erläuterten Sinn geht es nicht um die besten, sondern um gute Beispiele zur Revitalisierung und zum Umbau von Quartieren durch Maßnahmen zur blauen Infrastruktur in urbanen Räumen. In Ergänzung zu den bereits im Rahmen der Desk Research erhobenen Informa­tionen wurden zu den ausgewählten Vorhaben ergänzende Primärerhebungen durchgeführt, insbe­sondere durch Begehungen und Interviews. Die so gesammelten Informationen wurden mittels einer einheitlichen Systematik aufbereitet, ausgewertet und zu einer Fall­beschreibung in Form eines zweiseitigen Infoblattes verdichtet.

Alle Infoblätter enthalten neben einer Kurzbeschreibung des Fallbeispiels von 400 Wörtern Angaben über die Stadtregion, die Fließgewässer, die Laufzeit und den Typ der Urban-River Regeneration. Darüber hinaus enthalten die Infoblätter Abbildungen, eine Karte sowie ausgewählte weiterführende Quellen zum Fallbeispiel.

 

Kontakt:

Prof. Dr. Thorsten Wiechmann

Dr. Letizia Imbres

Laufzeit des Projekts: 01.10.2022 - 30.09.2024